Es wurde sehr spät am gestrigen Freitag. Zu spät für meinen Geschmack, wenn es nur um den Vorentscheid zum ESC geht und nicht um den ESC selbst. Aber darüber habe ich mich ja in meinem letzten Artikel zum ESC bereits ausführlich ausgelassen.
Hier ist meine Analyse zum Vorentscheid:
Die Show
Der Ablauf der Show hat mich positiv überrascht: Kein endlos langes Gelaber, sondern die Acts wurden zügig vorgestellt und traten mit ihrem Song auf. Dazwischen ein wenig Talk mit den Gästen auf dem Sofa.
Florian Silbereisen, Ilse DeLange und Riccardo Simonetti hatten dabei gar keine Gelegenheit, langweilig zu werden. (Was Riccardo ohnehin selten passiert)
Aus den 9 geplanten Acts wurden dann aber nur 8, da Alina Süggeler (Frontfrau von Frida Gold) krankheitsbedingt ausfiel. Auf die Teilnehmer gehe ich gleich aber noch einzeln ein.
Barbara Schöneberger ist wie immer eine gesetzte Konstante, die diesmal ausnahmsweise nicht in einem peinlichen Kleid, sondern in schlichtem Schwarz durch die Sendung führte.
Die Teilnehmer
Im Gegensatz zum letzten Jahr war das Teilnehmerfeld diesmal bunter gemischt und es waren unterschiedliche Genres zu hören. Von Pop über Punk, Folk, Rock und Party-Schlager war für jeden was dabei.
Angst hatte ich vor allem vor Matthias Distel, besser bekannt als Ikke Hüftgold. Seine Musik ist zu meist eher in Bierzelten und am Ballermann zu hören. Und genau da setzt das Niveau und das Genre seines Liedes auch an. Angst deshalb, weil ich es als absolute Katastrophe betrachtet hätte, hätte sich Distel hier durchgesetzt und uns in Liverpool vertreten.
Leicht selbstironisch singt er darüber, dass es auch mal ein Lied brauche, das ohne Saufen, Sex oder Drogen, sondern mit gutem Text auskomme. Und der lautet: „La La La La …“.
Betreutes Singen für Besoffene.
Wie kommt es eigentlich dazu, dass so ein Beitrag im Vorentscheid landet? Nun, der NDR hat sich dazu entschieden, einen der Teilnehmer durch ein TikTok-Voting bestimmen zu lassen. Dieses Voting hat der Party-Sänger mit 52 % der Stimmen für sich entschieden. Traurig, aber fair. Schließlich wurde hier auf die Zuschauer gehört. Genau das hat man die letzten Vorentscheide ja leider vermissen lassen.
Und noch was scheint sich der NDR diesmal zu Herzen genommen zu haben: Das Teilnehmerfeld wurde in diesem Jahr offenbar nicht nur nach Radiotauglichkeit ausgewählt. Zwar sind einige Beiträge dabei, die gut ins Radio passen, aber eben auch welche, die das explizit nicht tun. Und das freut mich sehr.
Eine meiner Favoritinnen war Patty Gurdy. Die 26-jährige aus Ratingen sticht mit Folk-Pop und einer Drehleier aus der Masse hervor. Darüber hinaus geht das Lied „Melodies of Hope“ gut ins Ohr und bleibt da auch. Ungewöhnliche Instrumente und eine eingängige Melodie waren schon immer ein Chancengeber beim ESC.
Sie schrieb das Lied innerhalb eines Tages, nachdem ihr komplettes Studio und ihre Instrumente bei der Flut im Ahrtal zerstört wurden. Lediglich ihre geliebte Drehleier hat die Katastrophe überlebt. Dank der Unterstützung ihrer Fans konnte sie sich ihr Leben und Ihr berufliches Standbein wieder aufbauen.
Ich finde Patty Gurdy sehr sympathisch und finde, die hätte gut zum ESC gepasst. Leider hat es im Vorentschied nur für den letzten Platz gereicht und ich glaube auch zu wissen, woran das lag. Denn bedauerlicherweise konnte sie auf der Bühne nicht ganz das zeigen, was sie kann, da die Tontechnik völlig versagt hat. Auf Twitter liest man treffend: „Da hatte die Gurdy mehr Sound als die Patty.“ Denn ihre Stimme war ungünstigerweise unter dem Playback und der Drehleier viel zu leise. Man merkte ihr auch an, dass sie versuchte gegen die laute Musik anzusingen.
Hier der Vergleich zwischen der Live-Version in der ARD und der Studioversion. Sie kann es besser, wenn man ihr die Stimme in der PA nicht abschneidet.
Mein zweiter Favorit war die Band Lord of the Lost aus Hamburg. Seit 2009 gibt es die Konstellation und seitdem geht es auch steil bergauf. Im letzten Jahr waren die fünf Musiker mit Iron Maiden auf Tour. In diesem Jahr werden sie das wieder sein.
Lord of the Lost stechen nicht nur musikalisch, sondern auch optisch hervor. Ganz in rotem Lack und Leder singen sie von „Blood and Glitter“. Das gleichnamige Album schoss im Januar übrigens direkt an die Spitze der Charts.
Dass Lord of the Lost die Sieger des Abends waren und Deutschland am 13. Mai in Liverpool vertreten werden, ist inzwischen sicherlich bei jedem angekommen. Und ich bin mit dem Ergebnis durchaus zufrieden. Auch wenn Patty Gurdy meine Top-Favoritin war, sind Lord of the Lost für mich nahezu gleichauf. Bei beiden habe ich mit die besten Chancen beim ESC ausgerechnet.
Man möge mir an dieser Stelle verzeihen, wenn ich auf die übrigen Kandidaten nicht einzeln eingehe. Keiner der übrigen Teilnehmersongs war wirklich schlecht. Aber leider langweilig. Langweilig im Sinne von: Sticht nicht aus der Masse hervor. Und das ist es, worauf es beim ESC ankommt. Die Songs von Anica Russo, Rene Miller, Will Church und Trong sind das, was man im Radio zu Hauf hört. Trong dürfte vermutlich von allen am wenigsten traurig sein. Schließlich ist er in Vietnam ein Superstar und wird als German Hot Boy und als Sieger von Vietnam Idol gefeiert.
Lediglich Lonley Spring tanzen bei den übrigen Acts nochmals aus der Reihe mit einer Punk-Nummer, die problemlos aus den 90ern von The Offspring stammen könnte. Ein Schnelldurchlauf aller 9 Kandidaten im Schnelldurchlauf gibts im nachfolgenden Video:
Die Wertung
An dieser Stelle wird es wieder grenzwertig. Diesmal versuchte sich der NDR an einem Wertungsmodus, der stark an das Finale des ESC erinnert. Die Hälfte der Wertung stammt vom Publikum, welches eine Woche im Vorfeld des Vorentscheids online abstimmen konnte und nochmals per Telefon und SMS während der TV-Show. Die andere Hälfte der Wertung stammen von acht Jurys in acht verschiedenen Ländern, die jeweils aus fünf Personen aus dem Musik- und Show-Business bestanden.
Mir stellt sich da die Frage, wieso wir konkurrierende Länder über unseren eigenen Beitrag abstimmen lassen. Hier könnte die Jury durchaus absichtlich den schwächsten Teilnehmer wählen, um die eigenen Chancen im Finale zu erhöhen. Schaut man sich die vergebenen Punkte an, könnte man das durchaus glauben, aber wir wollen hier mal niemandem eine böse Absicht unterstellen.
Jury | Publikum | Gesamt | |
---|---|---|---|
Lord Of The Lost | 43 | 146 | 189 |
Ikke Hüftgold | 10 | 101 | 111 |
Will Church | 90 | 21 | 111 |
TRONG | 52 | 19 | 71 |
Lonely Spring | 40 | 30 | 70 |
Anica Russo | 57 | 8 | 65 |
René Miller | 54 | 8 | 62 |
Patty Gurdy | 22 | 34 | 56 |
Man kann in der Tabelle deutlich sehen, dass sich die Wertung der Jury deutlich von der Wertung des Publikums unterscheidet. Letztlich hätte die Jury auf das Gesamtergebnis kaum Einfluss gehabt. Dennoch frage ich mich ernsthaft, nach welchen Kriterien diese Jury hier bewertet hat. Ging es etwa wieder nach Radiotauglichkeit? Oder nach rein handwerklichen Aspekten? Oder etwa danach, gegen wen es sich am einfachsten gewinnen lässt? (Das wollten wir doch sein lassen)
Das Publikum hat hingegen erkannt, was es für den ESC braucht und sich für Lord of the Lost entschieden.
Als die Punkte des Publikums verkündet wurden, blieb mir kurz das Herz stehen. Denn als allererstes wurden die Punkte für Ikke Hüftgold eingeblendet, welche bereits eine absurd hohe Punktzahl war. Für einen Moment sah ich unsere Platzierung bei den Buchmachern in den Keller stürzen. Die Nachfolgenden Punkte lagen zunächst weit darunter, sodass es im ersten Moment nach einem Sieg für den Mallorca-Sänger aussah.
Bis zum Schluss war es aber spannend: Würde Will Church auch vom Publikum die Höchstpunktzahl bekommen und den ersten Platz ergattern? Schließlich hatte die Jury ihn als Sieger gesehen.
Doch wer gut aufgepasst hat und mitgerechnet hat, wusste, dass das nicht mehr zu schaffen war. Und so freuten sich Lord of the Lost über den Sieg, den sie im ersten Moment kaum fassen konnten.
Internationale Einordnung
Die Buchmacher sind indes noch nicht ganz überzeugt. Wenige Minuten nach der Bekanntgabe unseres Acts für den ESC stieg Deutschlands Platzierung in den Wettbüros um 2 Plätze nach oben. Weniger als 24 Stunden später sind es wieder 3 Plätze weniger.
Im Übrigen sah auch das internationale Publikum in unabhängigen Umfragen Lord of the Lost und Patty Gurdy ganz vorne als Vertreter Deutschlands beim Eurovision Song Contest.
Die höchsten Chancen auf den Sieg des ESC hat derzeit Schweden, obwohl im Moment noch gar nicht feststeht, wer für Schweden antritt. Schweden löste die Ukraine auf Platz 1 ab, in dem Moment, in dem bekannt wurde, welche Teilnehmer in Schweden beim Melodivestivalen antreten. Grund dafür ist vermutlich die Teilnahme von Loreen, die den ESC bereits 2012 mit dem Song „Euphoria“ gewann. Die Buchmacher schätzen ihre Gewinnchance auf 78% ein. Marcus & Martinus liegen mit 10% auf Platz 2. Die Zwillinge sind in Norwegen bereits seit 2012 Kinderstars.
Titelbild: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
Screenshots: © NDR
Ein Kommentar
Freut mich das du etwas Spaß dabei hattest.