Noch wach? – Ein Buch mit wichtigem Thema, aber komischem Frauenbild

Benjamin von Stuckrad-Barres neues Werk “Noch wach?” ist ein Roman, aber auch ein fiktionalisierter Erfahrungsbericht über die MeToo-Geschehnisse rund um den Axel-Springer-Verlag. Im Buch geht es nicht um eine Zeitung, sondern einen Fernsehsender, die Zuordnung der namenlosen Figuren zu realen Personen ist aber nicht sonderlich schwer.

Das Buch habe ich mir als vom Autor gelesenes Audiobuch bei Audible gekauft und mich durch die zwölf Stunden Inhalt gehört, zum einen weil mir das Thema durch meine Jugendarbeit und politischen Initiativen bekannt ist, zum anderen aber, um meine eigene Rolle als Führungskraft mit disziplinarischer und fachlicher Verantwortung zu reflektieren.

Die Handlung ist schnell zusammengefasst. Der Protagonist, das Buch ist in der ersten Person verfasst, wird durch Kontakte in die Bearbeitung eines perversen Systems gezogen und organisiert dann, zusammen mit einer Betroffenen, eine Aktionsgruppe, nein eher einen Arbeitskreis, welcher versucht, über ein Compliance-Verfahren dem Chefredakteur eins rein zu drücken. Was am Ende nicht gelingt. Also das Ziel ist nicht klar, es wird impliziert, dass er seinen Job verlieren soll, aber auch nicht wirklich, ich weiß es nicht. Es geht mehr darum, etwas zu tun, als etwas zu erreichen.

Einen Roman über MeToo aus Sicht eines nicht betroffenen Mannes zu schreiben, in welchem er sich klar als Held darstellt, da er so unglaubliche Dinge tut wie “Die Hälfte aller Anrufe annehmen” und “mit seinem Anwalt sprechen”, hat ein komisches Gschmäckle. Paula Keller hat das besser ausgedrückt, als ich das könnte; Aber Alter, der Protagonist erledigt das moralische Minimum und tut dann so, als hätte er durch das Zusammentragen von Aussagen und das Weitergeben von Informationen den Nahostkonflikt gelöst. Die Leistung liegt auf dem Level Bürokommunikationskauffrau im zweiten Lehrjahr, wird aber hier dargestellt wie die Planung eines Atomkraftwerkes. Und natürlich bietet ihm eine Frau, die sich ihm anvertraut, nachdem er sich so gut um sie gekümmert hat, nachdem sie zufällig in sein Hotelzimmer stolperte, unaufgefordert Oralverkehr an. Soll ja keiner denken, dass Mann kein Stecher ist.

Gut, ich finde mich auch geiler als Layla, aber zumindest habe ich weniger Gedanken als dieser Buchprotagonist. Kein mir bekannter Mensch hat je so viel darüber nachgedacht, wie jemand etwas betont oder welche Wortwahl das Gegenüber verwendet, wie dieser Buchcharakter. Wie jemand “Hi” sagt, bedarf einer Seite Interpretation und hat praktisch keine Konsequenzen. Es vertrauen ihm sich ja sowieso alle Frauen ohne Grund an. Würde der Protagonist seine unwichtigen Gedanken einfach weglassen, könnte man zwei der zwölf Audiobuchstunden sparen, aber Herr Barre wird offensichtlich pro Wort bezahlt und kann kein Brötchen kaufen ohne einen pseudointellektuellen Gedankenschwung zu haben, welcher eine Lawinenladung der Überdenkung bei der Bergwacht des Kulturdiskurses auslöst. Von der satirischen “Nonsensrede” des Autors bei Late Night Berlin sind Absätze teils nicht zu unterscheiden.

Aber egal: Thema ist wichtig, da kann man auch mal die Seiten voll machen. Ewig lang hält sich der Protagonist in L.A. auf, um krampfhaft eine Verbindung zur Harvey-Weinstein-Geschichte herzustellen. Statt dies als Exkurs zu erzählen, wird hier ein ganzer Handlungsstrang gebaut, welcher die Betroffenen der Weinstein-Geschichte in einem katastrophal schlechten Licht darstellt. Scheinbar liegen diese Damen Tag und Nacht an einem Pool, konsumieren Unmengen an legalen und illegalen Drogen, und haben so viel Geld, dass sie locker in einem angesagten Hotel wohnen können. Das Buch hat Geschichten über irgendwelche Dachausflüge und Partys, welche nirgends hinführen und die Charaktere nur weltfremd wirken lassen. Diese merken auch nicht, dass das Personal im Hotel die gleichen Repressalien, nur natürlich ohne das Polster an Geld, erlebt. Es wird zwar später erwähnt, aber selbst kleinste Zeichen wie das Hotel zu wechseln, werden nicht gesetzt. Problem ist es nur, wenn es mich betrifft.

Man könnte nun die Frauen was erzählen lassen, aber das macht nur der Kompositcharakter Sophia. Wobei nicht wirklich; ihre Motivation, wie die aller Frauen im Buch, wird nie klar. Die Betroffenen arbeiten alle bei einem Fernsehsender und sie haben die gleichen Charakterzüge: Sie haben alle Essstörungen, nehmen alle Drogen, haben den Job, weil sie mit dem Chefredakteur schliefen und der Job ist der einzige Lebensinhalt. Oh und jedes Gespräch hat ewig viele Kommentare, ob die jeweilige Wortwahl zeitgemäß ist. Wenn mich jemand so oft unterbrechen würde, weil meine Ausdrucksweise zu “boomerhaft” ist, wäre ich mit dieser Person nicht befreundet. Die Hauptfrage für mich war irgendwann: Warum zum Fick arbeitest du denn da? Es geht scheinbar nicht um Geld, davon haben alle etwas, es geht nicht um Public Image, es geht auch nicht um Karriere. Die fehlende Motivation der Frauen lässt sie wirken wie kleine Mädchen, denen man sogar über die Straße helfen muss.

Setting: Berlin

Eine Dame beschreibt, wie sie Krankenschwester war, dann eingestellt wurde, um mit dem Chefredakteur zu schlafen, und jetzt Angst hat, ihren Job zu verlieren. Dann ist doch der Worst Case: wieder Krankenschwester sein.

Was hier wichtig ist: Ich verurteile nicht die realen Betroffenen, sondern mir geht es darum, wie die Charaktere im Roman dargestellt werden. Der Autor konnte diese sagen lassen, was er will, es ist also eine bewusste Darstellung. Und diese ist katastrophal. Die Frauen werden selbst objektiviert, teils wird über sie gesprochen, wie ein Oldtimer-Liebhaber darüber spricht, dass viele Autos nicht richtig gepflegt werden. Sie haben kein Privatleben, keine hat z. B. einen Freund oder Kinder, sie haben keine Ziele, außer ihren Job zu behalten, und sie wurden alle vorher über das System informiert. Für mich stellte sich die Frage: Ja, warum wollen die denn alle den scheiß Job behalten? Geld, Ruhm, Ehre? Wäre vollkommen ok, aber die haben einfach mal gar keine Motivation.

In Nürnberg gibt es die Disko “WON”, es hieß in meiner Jugend immer: “Da gehst du hin, wenn du dich prügeln willst”. Da ich das nicht wollte, ging ich da nicht hin. Im Buch wird den Frauen vor der Einstellung gesagt “Geh da nicht hin, du wirst nur eingestellt, um gefickt zu werden”, und sie gingen hin. Es wurde von Ihnen als Neid der anderen abgetan, wobei die, welche den Rat befolgten, natürlich nicht im Buch vorkommen. Auf der anderen Seite wirft das ein extrem schlechtes Bild auf die weibliche Arbeitnehmergemeinschaft. Die Vorstellung, einen solchen Rat zu ignorieren, käme mir persönlich nie in den Sinn. Wie schlimm ist bitte die Situation unter Kolleginnen in deutschen Betrieben, dass eine solche Missgunst erwartet wird? Leider wird darauf nicht eingegangen, lieber noch fünf Seiten Gedanken über einen Ohrring einfügen.

Insgesamt entsteht für mich ein Widerspruch für die Frauen im Buch, welcher zwar am Rande angesprochen wird, aber nie direkt ausformuliert: Der Buch stellt alle so dar, als ob sie Ihre Positionen niemals durch ihre Qualifikation erreichen könnten, und diese nur bekommen haben, weil sie als Sexobjekte missbraucht werden. Sie fordern ein, dass der Chefredakteur entlassen wird, und das System somit beendet wird. Sie haben aber Angst davor, ihren Job zu verlieren, wenn sie sich öffentlich äußern. Aber ohne das System hätten sie ja anscheinend den Job nicht. Sie wollen Ihren eigenen Profit aus dem Scheißsystem behalten, aber verhindern, dass andere Frauen nachkommen? Wenn du die Leiter bestiegen hast, tritt sie weg. Das ist sexistisch, aber diese Message habe ich aus der Darstellung des Buches wahrgenommen.

Auch dass die Protagonistin erst sich als Moderations-Troll im TV gegen den “ganzen linken Quatsch wie Gendern oder Feminismus” einsetzt und sich über die tollen Reaktionen im Netz freut, und später dann Feministin wird, weil sie betroffen ist, lässt auf diese ein katastrophales Licht scheinen. Sich gegen etwas einzusetzen, bis es einen selbst betrifft, ist die Definition von Heuchelei. Wie es ein Ted Cruz tut, der, seitdem seine Tochter sich als Bi geoutet hat, sehr viel freundlicher gegenüber Homosexuellen vorgeht.

Die Perspektive einer Frau, welche das Ziel hatte, ernsthaften Journalismus zu machen oder eine gute Fernsehsendung zu gestalten, nur um enttäuscht zu werden, weil sie nur als laufendes Paar Titten betrachtet wird, gibt es nicht.

Die heuchlerische Krönung ist die Existenz des Buches als Roman. Die Botschaft des gesamten Buches ist es, sich öffentlich und mit Klarnamen zu äußern und Mut zu haben. Aber Herr Barre, der ja scheinbar bei Springer persönlich dabei war, macht dies eben nicht. Er schreibt einen funktionalisierten Roman, der schön rechtssicher aus der Zeitung einen Fernsehsender macht und Namen (Elon Musk kommt z. B. vor) nur bei Personen erwähnt, die ihm keine Verleumdungsklage zusenden werden. Der wohl aktuell bekannteste Autor, welcher so gut dasteht, dass er problemlos in L.A. im Hotel leben kann, traut sich nicht, einen Faktenbericht mit Namen und Daten zu schreiben, aber die Frauen sollen das mal schön machen. Was zum Fick?

Als ich mit der Frauenberatung Nürnberg im Auftrag einer Abgeordneten ein Hintergrundgespräch über Missbrauch von weiblichen Auszubildenden führte, hat sich ein Bild von systematischem Missbrauch gezeigt. Ganze Generationen an Auszubildenden seien von bestimmten Ausbildern traumatisiert worden, bis der Konzern eingriff. Also 15-20-Jährige. Und diese haben nicht mal eine Fernsehsendung bekommen, und sich bei einem Starautoren in L.A. beschweren können, sondern ein Ausbildungsgehalt im dreistelligen Bereich und kaum Beratung, weil Arbeitnehmerinnen unter 18 nicht vom Frauenberatungsangebot in Mittelfranken abgedeckt sind, und nur nebenbei mit abgedeckt werden.
Diese Informationen sind nicht geheim, Herr Barre hätte seine enorme Plattform nutzen können, um auf dieses systematische Problem aufmerksam zu machen, indem er ein Sachbuch verfasst, aber nein, er geht nur das an, was Ihn direkt betrifft, ist ja sein Sozialkreis, und dann muss er sich in L.A. erholen. Da lese ich lieber die Drucksachen von Julika Sandt, die versucht zumindest, das Problem anzugehen.

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